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Memorandum des Fachforums Nachhaltigkeit NRW

„Zukunftsfähig nach Corona – Zeit für Nachhaltigkeit“

08. Juni 2020 | Die Corona-Pandemie hat schon jetzt unsere Welt, unsere Gesellschaft massiv verändert. Die Bundesregierung sowie Bundestag, Bundesrat und Länderparlamente haben weitreichende Maßnahmen beschlossen, um die Infektionsraten zu senken und damit Leben zu retten sowie wirtschaftliche und soziale Folgen der Maßnahmen abzumildern. Selten wurde so deutlich, wie entscheidend eine handlungsfähige Demokratie ist. Solch ein nach demokratischen Prinzipien gestaltender Staat ist nicht nur in der gegenwärtigen Corona-Krise von großer Bedeutung, sondern auch für die Überwindung der ökologischen und sozialen Krisen.

Der ,nicht-nachhaltige“ Zustand vor der Pandemie, d.h. die weiterhin ungebremst ablaufende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und die damit verbundenen Folgen des Klimawandels, die Zerstörung von Lebensräumen, das Aussterben von Arten, die Vergiftung von Luft, Wasser oder Boden erschweren die Bewältigung der Krise zusätzlich. Ohne Gegenmaßnahmen werden sich die bestehenden sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten durch die Corona-Krise weiter verstärken, wie Kinderarmut, Obdachlosigkeit, mangelnde Bezahlung für Sorgearbeit, nicht ausreichend ausgestattete öffentliche Dienste, Ausbeutung in internationalen Lieferketten, Höfesterben, ungleiche Marktbedingungen für Klein- und Kleinstbetriebe und Steuerflucht. Die „Held*innen“ der Krise – die Angestellten in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Lebensmittelläden, Nahverkehr, dürfen nicht weiterhin zu den schlecht Verdienenden gehören – das muss sich ändern.

Die Chance: Veränderungsprozesse nutzen und nachhaltig gestalten Die Maßnahmen, die zur Überwindung der Corona-Krise ergriffen werden, bieten nicht nur die Chance zur Abwendung von existenzieller Not. Durch gezielte Konjunkturförderung, Subventionsabbau und soziale Programme können sie auch den Aufbau einer gerechten, ökologisch und sozial ausgerichteten Marktwirtschaft und regionale oder diversifizierte Wirtschaftskreisläufe befördern. Dadurch kann es zu einem neuen Generationsvertrag kommen, der eine Nachhaltige Entwicklung als umfassendes gesellschaftliches Ziel fest-schreibt. Politik und Regierungen auf allen Ebenen sind nun aufgefordert, diese historische Chance im Rahmen der Krisenbewältigung für eine sozial ökologische Transformation zu nutzen. Mit den folgenden Empfehlungen richtet sich das Fachforum Nachhaltigkeit NRW an die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, um auf eine nachhaltige Krisenbewältigung in NRW und den Ebenen des Bundes und der EU hinzuwirken.

  1. Nachhaltigkeit ist systemrelevant und muss politisch entsprechend umgesetzt werden. Dazu gehört, dass die angekündigten Konjunkturprogramme sich am Leitbild einer Nachhaltigen Entwicklung orientieren müssen. So tragen sie dazu bei, dass die Klimaschutzziele Nordrhein-Westfalens, Deutschlands und der EU zügig nach-gebessert und im Rahmen des Pariser Klimaabkommens umgesetzt und erreicht werden. Die Corona-bedingten Konjunkturmaßnahmen der Landesregierung sollten zudem auf die folgenden klimapolitischen Ziele hinwirken: Frühestmöglicher Kohle-ausstieg verbunden mit einer erfolgreichen Energiewende mit einem Erneuerbare-Energien-Anteil von 75%, Klimaneutralität spätestens bis 2050, eine ambitionierte Mobilitätswende auf CO2-freie Antriebe bis 2030 sowie eine signifikante Reduzierung der Luft- und Wasserverschmutzung in Nordrhein-Westfalen, unter anderem durch entsprechende Maßnahmen im Bereich der Mobilität und Landwirtschaft. Die nach-haltigen Konjunkturprogramme müssen deshalb mit folgenden Maßnahmen flankiert werden: Eine Subventionierung von Umweltzerstörung muss unverzüglich, spätes-tens bis 2025, aufgegeben werden. Die Steuern sollten die „soziale und ökologische Wahrheit“ sagen. Nachhaltige und faire Produkte müssen entsprechend geringer besteuert werden als Produkte, deren Lieferketten die ökologischen Lebensgrund-lagen zerstören oder die Menschenrechte missachten.
    Die Umschichtung der Finanzströme in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit muss für öffentliche Geldanlagen verbindlich werden, z. B. für Rentenfonds. Als Handlungsrahmen zur Lösung dringender aktueller und zukünftiger Herausforde-rungen muss die Nachhaltigkeitsstrategie des Landes im Rahmen ihrer aktuellen Überarbeitung die Corona-Krise adressieren und das Vorgehen zur nachhaltigen Krisenbewältigung darlegen. Dabei steht das Fachforum Nachhaltigkeit gerne beratend zur Verfügung. Zur Umsetzung der Strategie ist eine bindende Wirkung gegenüber Fachpolitiken nötig.
  2. Soziale Gerechtigkeit als „neue“ Normalität. Eine soziale Offensive ist notwendig. Wir erwarten von der Landesregierung die Umsetzung eigener Maßnahmen sowie die Unterstützung von Maßnahmen auf Bundesebene zur Stärkung der Bildungs-gerechtigkeit, für eine bessere Bezahlung von Pflegekräften und anderen sozialen Berufen, für eine gerechte Digitalisierung sowie für ein Lieferkettengesetz und entsprechende Sorgfaltspflichten. Auch dafür muss die Steuerpolitik gerechter werden. Es müssen Finanzierungsinstrumente eingeführt werden, z.B. eine um-fassende Finanztransaktionssteuer, für die sich die Landesregierung auf Bundes-ebene einsetzen sollte. Damit kann und muss verhindert werden, dass die Staats-verschuldung aufgrund von Corona vor allem die ärmeren Menschen trifft.
  3. Nach Lockdown – Startup für bürgerschaftliches Engagement und Kommunen. Nachhaltige Entwicklung und deren Umsetzung benötigt aktive Teilhabe und demo-kratische Mitgestaltung. Dafür sind bürgerschaftliches und kulturelles Engagement, zivilgesellschaftliche Organisationen und handlungsfähige Kommunen zwingend notwendig. Initiativen und Kommunen leiden unter den Folgen der Corona-Krise und bedürfen eines Schutzschirmes. Es braucht Handlungsräume und Unterstützung, damit die bestehende wegweisende Arbeit vieler Kommunen, Nachhaltigkeits-initiativen und auch sozialer Unternehmen wieder bzw. dauerhaft arbeits- und handlungsfähig werden. Dazu gehört auch ein Gemeinnützigkeitsrecht, das politisches Engagement z. B. für mehr Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit ermöglicht.
  4. Mit mehr Solidarität zu mehr Widerstandsfähigkeit. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig Gemeinschaft, Solidarität und Empathie in Krisenzeiten für eine Gesellschaft sind – zwischen Generationen, aber auch in Kommunen und zwischen Regionen und Ländern. Lokale, regionale und internationale Netzwerke der Solidarität – dazu gehören auch Kirchen und andere Religionsgemeinschaften – erhöhen die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaften gegenüber Krisen. Gemeinschaftsbildende und solidarische Akteure und Netzwerke und ihre Arbeit zu stärken, muss eine Kernaufgabe der Politik in Folge von Corona sein.
  5. Wirtschaftsstandort NRW nachhaltig und zukunftsfähig sichern. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass menschliche Grundrechte und -bedürfnisse wie Gesundheit, aber auch Wohnen, Bildung, Wasser als öffentliche Güter nicht dem freien Markt unterworfen sein dürfen. Viele Privatisierungen müssen vor diesem Hintergrund überdacht werden. Staatshilfen an Unternehmen müssen an überprüfbare Nach-haltigkeitskriterien geknüpft werden, etwa an den Deutschen Nachhaltigkeitskodex. Zudem ist es notwendig in einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu hinterfragen, was für ein gutes Leben wichtig ist, wie ein zukunftsfähiges Wirtschaften unter Beachtung der Menschenrechte und der planetaren Grenzen gestaltet werden kann. Wir fordern die Politik auf, diesen Dialog für einen nachhaltigen Generationsvertrag zu führen. Die positiven Ansätze zur Regionalisierung der Ernährungswirtschaft müssen unterstützt, gefördert und vervielfältigt werden, um resiliente Regionen aufzubauen und globale Warenströme zu vermindern. Für resiliente und regionale Strukturen müssen die Weichen für eine generelle Umgestaltung der Konsum- und Produktionsmuster gestellt werden. Schwerpunkte sollten dabei auf der Kreislauf-wirtschaft, einer Nutzen-statt-Besitzen-Philosophie sowie einem umfassenden Forschungsprogramm für die notwendigen gesellschaftlichen Transformations-prozesse (z.B. Forschungskolleg) liegen. Als konkrete Handlungsfelder empfehlen sich in NRW explizit die Weiterentwicklung und Skalierung von der EU formulierten Circular Economy 2.0-Ansätzen (Kreislaufwirtschaft) sowie eine nachhaltige Digitali-sierung.
  6. Solidarität muss global bleiben. Die Corona-Krise verschärft global Ungleichheiten und trifft die Schwächsten in der Gesellschaft am härtesten. Die Bedeutung der Umsetzung der globalen Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs), insbesondere der Ziele zur Sicherung von Gesundheit, Wasserversorgung, Bildung, nachhaltiger Produktion und Konsum und menschenwürdigen Arbeits-bedingungen etc. wird aktuell drastisch deutlich. Weltweit bewegen wir uns sogar in eine falsche Richtung, was die Ziele zu Klimaschutz, Biodiversität und Abfall sowie zu einer Verringerung der je nationalen Kluft zwischen Arm und Reich angeht. NRW kann hier mit der Verankerung der SDGs in seiner Nachhaltigkeitsstrategie, einer kohärenten Politik sowie der Stärkung der Umsetzung kommunaler Nach-haltigkeit einen wichtigen Beitrag leisten. Dieser muss kontinuierlich ausgebaut werden. Krisenprävention und eine verstärkte Resilienz in den Partnerländern Nordrhein-Westfalens sollten gefördert werden: durch einen intensiveren Nord-Süd-Austausch und die Unterstützung der politischen Forderung nach Zugang zu sozialen Sicherungssystemen.
  7. Natur- und Artenschutz als Lebensgrundlage und Gesundheitsvorsorge. Die Krise offenbart in unterschiedlicher Hinsicht die Fragilität und den Wert einer intakten Natur für Mensch und Umwelt. Der langfristige Schutz von Natur und Artenvielfalt sichert auch die Lebensgrundlage des Menschen und damit auch der weiteren Funktionen, die die Natur für ihn erfüllt: als Erholungsraum, Naturerlebnis und zur Prävention von psychischen Belastungen und Gesundheitsvorsorge insgesamt, zur Versorgung mit Frisch- und Kaltluft sowie als Lernort. Damit verbunden gilt es auch die Reduktion des Flächenverbrauchs und umweltverträgliche Landwirtschaft zu fördern.

Das Memorandum wurde von folgenden Organisationen verfasst:
Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V. (bezev)
Collaborating Centre on Sustainable Consumption and Producion (CSCP)
Die Regionalbewegung NRW e.V.
Eine Welt Netz NRW e.V.
TransFair e.V. (Fairtrade Deutschland)
Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung e.V. (FUgE)
Germanwatch e.V.
Institut für Kirche und Gesellschaft (IKG) der Evangelischen Kirche von Westfalen
Köln Agenda e.V.
Landesarbeitsgemeinschaft Agenda 21 NRW e.V. (LAG 21 NRW)
Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) der Evangelischen Kirche von Westfalen
Naturschutzbund Landesverband NRW e.V. (NABU NRW)
VCD Landesverband NRW e.V.
Verbraucherzentrale NRW e.V.
Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft NRW (ver.di)
Wissenschaftsladen Bonn e.V. (WILA)